Chile - Verlassene Orte der Atacama

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde beinahe der gesamte Weltbedarf an Salpeter in der Atacama Wüste im Norden Chiles gefördert. Salpeter wurde in den Industrieländern aufgrund seines Stickstoffgehaltes als Düngemittel stark nachgefragt, um die wachsenden Bevölkerungen ernähren zu können, und diente auch der Herstellung von Sprengstoffen. Entsprechend lukrativ war der Abbau. Salpeter machte bis zu 80% des gesamten chilenischen Exportes aus, das ganze Land lebte von diesem weißen Gold, wie es damals auch genannt wurde. Tausende Menschen zogen in die trockenste Wüste der Erde, um in den Oficinas Salitreras, den Salpeterwerken, Geld zu verdienen.

Im Ersten Weltkrieg drohte Deutschland durch die britische Seeblockade von der Stickstoffversorgung abgeschnitten zu werden. Fritz Haber und Carl Bosch gelang in dieser Zeit die Ammoniak-Synthese im großtechnischen Maßstab, was Deutschland vom Salpeterhandel unabhängig machte. Diese Entwicklung führte in den folgenden Jahr zum schrittweisen Niedergang des Handels mit Salpeter aus Chile. Die Gewinne brachen ein und die Salpeterwerke boten immer weniger Menschen Arbeit. Nach und nach wurden sie aufgegeben, insgesamt über 170 verteilt über die Atacama, mitsamt den zugehörigen Siedlungen und Städten.

 

Übrig blieben in der Atacama Wüste Chiles Geisterstädte und Geisterfabriken, die sich über hunderte Kilometer entlang der Panamericana und der Straße von Antofagasta nach Calama aufreihen. Häufig sind nur noch Reste von Grundmauern und Schutt vorhanden. Ebenso finden sich immer wieder Geisterfriedhöfe, die mit ihren von der Sonne ausgebleichten Holzkreuzen in der umgebenden marsartigen Landschaft auf eigentümliche Weise gespenstisch wirken und oft die letzten Überbleibsel der ehemaligen Wüstensiedlungen sind.

 

Die verlassenen Orte der Atacama sind einmal mehr Zeuge dafür, wie der Mensch zum Zwecke der Ausbeutung von Bodenschätzen selbst in die lebensfeindlichsten Umgebungen vordringt und härtesten Bedingungen trotzt, sei es hier in der trockensten Wüste der Erde oder, wie das Beispiel Pyramiden auf Spitzbergen zeigt, in der Nähe des Nordpols, bei niedrigsten Temperaturen und mit mehreren Monaten Polarnacht.

Humberstone

Die Salpeterwerke von Humberstone wurden 1872 von dem Briten James Thomas "Santiago" Humberstone unter dem Namen La Palma gegründet. Damals gehörte der heutige Norden Chiles noch zu Peru und Bolivien. La Palma lag auf peruanischem Gebiet, weshalb die von Humberstone gegründete Firma, die La Palma betrieb, Peruvian Nitrate Company hieß. Nach dem zwischen Chile und Peru/Bolivien ausgetragenen Salpeterkrieg gingen jedoch 1884 große Teile der Atacama mit ihren reichen Salpetervorkommen an Chile, darunter auch das Gebiet um Iquique, in dem La Palma lag.

 

La Palma war eines der größten Salpeterwerke der Region. Zu Glanzzeiten arbeiteten hier um die 3500 Menschen, die in der dazugehörigen Stadt lebten. Wie in allen Oficinas musste aufgrund der isolierten Lage so gut wie sämtlicher Bedarf an Lebensmitteln und anderen Dingen von den Betreibern beschafft werden und wurde in der Pulperia, einer Art Supermarkt, verkauft. Viele Firmen bezahlten ihre Arbeiter allerdings in einer eigenen Währung, die nur in der jeweiligen Oficina gültig war und nirgendwo anders als Zahlungsmittel verwendet werden konnte. Dies stellte sicher, dass die Arbeiter ihren Lohn direkt wieder bei den Firmenbesitzern ablieferten. 

 

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Oficinas waren hart, schlecht, ausbeuterisch und von einer starken gesellschaftlichen Hierarchie geprägt. Diese Umstände ließen in einem langen, mitunter durch gewaltsame Auseinandersetzungen wie dem Iquique Massaker von 1907 begleiteten Prozess Salpeter-Gewerkschaften entstehen, die eine wichtige Rolle auf dem Weg zu den ersten Arbeitsgesetzen in Chile spielten.

 

Die Erfindung des Haber-Bosch Verfahrens zur Gewinnung von Ammoniak aus der Luft in den 20er Jahren führte zu einem starken Rückgang der Nachfrage nach natürlichem Salpeter. Die wirtschaftliche Tätigkeit in La Palma wurde eingestellt, bis es 1934 durch eine Firmengruppe gemeinsam mit dem chilenischen Staat übernommen und in Oficina Humberstone umbenannt wurde. Der Staat hatte Interesse daran, Arbeitsplätze zu schaffen, so dass die Zahl der Arbeiter einen Höchststand erreichte. Die Modernisierung des Standortes ließ den Betrieb bis 1940 erneut florieren, die Lebensbedingungen waren wesentlich besser als vor der ersten Schließung, was sich in Annehmlichkeiten wie Theater, Schwimmbad und Schule ausdrückte. Danach aber führte der stete Niedergang der Nachfrage nach natürlichem Salpeter schließlich 1961 zur Schließung der Fabriken von Humberstone. Die Wohnsiedlung wurde zur Geisterstadt.

 

Heute ist Humberstone ein Freilichtmuseum. Es zählt zu den nationalen Monumenten Chiles und ist seit 2005 Weltkulturerbe.

Chacabuco

Chacabuco ist eines der jüngsten Salpeterwerke Chiles. Gegründet wurde es erst 1924 und damit zu einer Zeit, als die synthetische Herstellung von Stickstoffverbindungen bereits dabei war, sich in den industrialisierten Ländern Europas zu etablieren. Trotzdem war es mit bis zu 5000 Menschen die nach Anzahl der Arbeiter größte Salitrera in Chile. Die Industrieanlagen wurden nach damals modernsten Stand der Technik ausgerüstet. Die Stadt besaß daneben kulturelle Einrichtungen wie Theater, Schule, Bibliothek und Sportanlagen. Die späte Gründung bedingte, dass die Arbeiter von Chacabuco von Anfang an von den Erfolgen der Gewerksschaftsbewegung und den ersten Arbeitsgesetzen profitierten. Sie fanden bessere Arbeits- und Wohnbedingungen vor als es die früheren Oficinas boten.

 

Niemand ahnte anfangs, dass der Standort nach nur 14 Jahren 1938 seinen Betrieb wieder einstellen würde. Dies lag neben der weiter sinkenden Nachfrage nach Chilesalpeter am sehr hohen Strombedarf der Produktion. Die Anlagen in Chacabuco wurden nach dem Shank Verfahren betrieben, welches 1870 von Santiago Humberstone in Chile eingeführt wurde. Es war wesentlich produktiver und kostengünstiger als das zu Pionierzeiten angewendete Paradas Verfahren, konnte aber nicht mit dem ab etwa 1930 verwendeten Guggenheim Verfahren mithalten, bei dem Sonnenenergie verwendet wurde. Da das Guggenheim Verfahren mitten in der stetig wachsenden Krise der Salpeterindustrie eingeführt wurde, kam es nur in den Oficinas Pedro de Valdivia und Maria Elena zum Einsatz. Trotzdem war Chacabuco auf Dauer nicht konkurrenzfähig und wurde geschlossen.

 

Nach der Schließung blieb zunächst die Verwaltung des Unternehmens in Chacabuco. Später diente es regelmäßig bei Manövern der chilenischen Armee als Unterkunft. So blieb der Ort bis 1971 gut erhalten, als er durch die Regierung Allende unter Denkmalschutz gestellt wurde. Das dunkle Kapitel Chacabucos sollte aber erst noch geschrieben werden. Nach dem Putsch des chilenischen Militärs unter Pinochet 1973 wurde für die nächsten zwei Jahre hier ein Konzentrationslager für politische Gefangene eingerichtet. Einer der ersten Gefangenen war der Staatssekretär des Kulturministeriums Waldo Suárez, der nur zwei Jahre zuvor für das Denkmalschutzverfahren zuständig war. Er starb zwei Tage nach seiner Entlassung an den Folgen der Haft.

 

Auch nachdem Chacabuco nicht mehr als Lager verwendet wurde blieb es bis fast zum Ende der Diktatur 1990 in den Händen des Militärs. Danach war der Ort frei zugänglich und fiel Vandalismus und Plünderungen zum Opfer. Der ehemalige Häftling Roberto Saldívar kehrte in den 90ern zurück, lebte allein in Chacabuco und kümmerte sich bis zu seinem Tod um den Erhalt. Heute gehört der Ort, wie Humberstone auch, zum nationalen Erbe Chiles. Es haben einige wenige Restaurationsarbeiten stattgefunden wie zum Beispiel im Theater oder am zentralen Platz. Viele andere Gebäude sind dagegen eingestürzt oder gefährdet.

Pedro de Valdivia

Die jüngste Gründung einer Salpeterstadt ist gleichzeitig die jüngste unter den so zahlreichen Geisterstädten der chilenischen Atacama. Erst 1931 wurde die Oficina Pedro de Valdivia durch die Guggenheim-Brüder eröffnet. Hier kam, ebenso wie im benachbarten fünf Jahre älteren Maria Elena, das Guggenheim-Verfahren zum Einsatz. Durch die Nutzung der im Übermaß vorhandenen Sonnenenergie war das Verfahren wirtschaftlich genug, dass sich der Salpeterabbau auch dann noch lohnte, als woanders der Betrieb schon längst eingestellt war. Es handelte sich, gemessen an der Produktion, sogar um die beiden bei weitem größten Salpeterfabriken Chiles mit einer zeitweisen Jahresleistung von über 1 Mio Tonnen. Die nicht endende Salpeterkrise machte jedoch auch diese Unternehmung irgendwann zum Verlustgeschäft. Beide Fabriken wurden 1965 an ein Staatsunternehmen verkauft. Als dieses in den 80ern privatisiert wurde, dauerte es auch nicht allzu lange, bis es den neuen Eigentümern zu teuer wurde, zwei Arbeitersiedlungen für die beiden nur etwa 30km voneinander entfernten Betriebe zu unterhalten. Die Siedlung Pedro de Valdivia wurde daher 1996 aufgegeben, viele der Arbeiter zogen nach Maria Elena. Der Produktionsstandort war jedoch bis vor kurzem noch tätig. Heute aber ist Maria Elena die letzte aktive und bewohnte Oficina Salitrera Chiles.

 

Vor den Toren der Stadt befindet sich ein Stadion mit Zuschauerrängen. Möglicherweise wurden hier Spiele oder Wettkämpfe gegen andere Salitreras ausgetragen. Wie in Chacabuco und dem späten Humberstone ist alleine das Vorhandensein einer solchen Anlage Ausdruck der seit den 20er Jahren deutlich verbesserten Bedingungen in der Salpeterindustrie. Einrichtungen wie Sportplätze, Theater, Kino etc. finden sich in Überresten derjenigen Salitreras nicht, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben und nicht wieder eröffnet wurden.

 

Pedro de Valdivia gehört ebenfalls zum nationalen Erbe Chiles. In der Stadt haben viele der ehemals dort lebenden Familien ihre Namen an den Wänden ihrer ehemaligen Häuser hinterlassen. Am ersten Samstag im Juni kehren viele der ehemaligen Pampinos, der Salpeterarbeiter, zurück und feiern ihr Wiedersehen im Rahmen eines großen Festes.

 

An einer Häuserwand findet sich übersetzt folgendes: “Ich bin nicht tot, ich werde es sein wenn du dich nicht an mich erinnerst."